Von hinter den Vorhängen verpasst Yvette keine Bewegung im Innenhof. Sie ist 95 Jahre jung und war einst Hauswärtin für das ganze Gebäude, in dem sie bereits seit 64 Jahren wohnt.
Vor lauter Uhren kann man sich in ihrer Wohnung, die sie seit 6 Jahren nicht mehr verlassen hat, kaum bewegen. Der Hauswart-Instikt lebt weiter. Die ehrwürdige Dame kennt alle Tricks und nimmt kein Blatt vor den Mund… ganz egal, wer zuhört.
„Yvette war sehr bekannt in der Nachbarschaft. Sie war berühmt dafür, die Dinge beim Namen zu nennen!“
Bitte stell dich doch kurz vor, Julien.
Ich bin Dokumentarfilmer. Ich habe auch schon im Werbebereich gearbeitet, doch Dokumentarfilme waren schon immer meine Leidenschaft. Egal, wo ich hingehe, vor allem auf Drehs im Ausland, kann ich es nicht lassen, Dokumentarfilme auf DVDs zu kaufen, die in Frankreich nicht erhältlich sind.
Ich schlüpfe aber auch gerne in die Rolle des Programmleiters. So war ich bereits für das Programm des „Club Docu“ im Gaîté Lyrique in Paris zuständig. Dort präsentierte ich im Ausland produzierte Filme, die in Frankreich noch nie zu sehen waren. Vor ein paar Monaten rief ich dann die Reihe „Food/Film“ ins Leben, wo kulinarische und cineastische Degustation fusioniert werden. Das Publikum sieht sich einen Dokumentarfilm über Essen, Ernährung oder die Kochkunst an und kann sich daraufhin an einer Verkostung der eben dargestellten Gerichte erfreuen. Cool, oder?
Wie hast du Yvette kennengelernt?
Im Gebäude in Paris, in dem ich wohne, war Yvette früher die Hauswartin. In der Gegend derRue de Lappe war sie eine bekannte Persönlichkeit, die dafür berühmt war, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Als ich einzog und sie kennenlernte, war sie bereits pensioniert.
Aber Freunde, die im Innenhof des Gebäudes ein Büro hatten, kannten sie. Sie erzählten mir, dass Lieferanten auf der Hut sein mussten, weil Yvette stets bereit zum Angriff war, wenn sie auf unbekannte Gesichter traf. Als eines Tages Handwerker im Innenhof parkieren wollten, fiel auch mir diese Seite an ihr auf. Yvette zögerte keine Sekunde, ihnen klarzumachen, dass man dies nicht dürfe. Man konnte sie auch nicht überhören, wenn sie diese Leute zurechtwies. Vor der Entstehung des Films hatte ich aber noch nie richtig mit ihr gesprochen.
Ich lernte sie erst richtig kennen, als ich mich um die Pflanzen in unserem Innenhof zu kümmern begann. Ich goss sie jeden Abend, und wenn ich unter ihrem Fenster angelangt war, streckte sie ihren Kopf heraus, und wir plauderten ein wenig. Und so wurden unsere kurzen Gespräche zur Gewohnheit. Ich wurde damals nie in ihre Wohnung eingeladen, aber der neue Hauswart besuchte sie jeden Tag. So kam es, dass er mir von Yvettes Leben und allem Drumherum berichten konnte.
Eines Tages fragte ich sie, ob ich sie am Nachmittag besuchen könnte, um ein bisschen zu quatschen und ein wenig zu filmen – sie hatte nichts dagegen.
„Trotz ihrer Leichtherzigkeit strahlte Yvette eine immense Kraft aus. Sie war eine Frau, die viel erlebt und das Leben alleine gemeistert hat.“
Leider ist Yvette Ende 2022 verstorben.
Ja. Ich hatte mir immer gewünscht, einen solchen Film mit meiner eigenen Großmutter zu drehen, aber leider kam es nie dazu. Ich habe dies immer bedauert und wollte mir solch eine Gelegenheit nicht nochmal entgehen lassen.
Ich wollte mehr über Yvette wissen, was auch der Auslöser für diesen Film war. Für mich war sie zunächst nur ein Flickenteppich aus nachbarlichen Gerüchten. Deshalb wollte ich mir endlich selbst ein Bild von ihr machen und aus all den Geschichten die echte Yvette kennenlernen!
Dazu kommt, dass ich von unseren Plaudereien wusste, dass sie in einem Film großartig wäre. Sie hatte eine einzigartige Stimme und eine ganz spezielle Art, Geschichten zu spinnen. Auch ihre Wohnung war außergewöhnlich. Einer meiner Nachbarn beschrieb sie mir so: voller Vögel, tickender Uhren und allerlei Krimskrams. Ich konnte es kaum erwarten, das Ganze endlich mit eigenen Augen zu sehen.
Mir fiel auch auf, dass Yvette einsam war. Sie konnte nicht mehr aus dem Haus, aber die Chance, mit Leuten, die vorbeikamen, durch das Fenster zu quatschen, verpasste sie nie. Ich sagte mir: Auch wenn der Film keine Erfolgsgarantie hat, mit ihr zu filmen, war ein guter Vorwand, ihr Gesellschaft zu leisten. Zumindest das konnte ich tun.
Der Film bringt einen zum Lächeln. Er strahlt eine unglaubliche Warmherzigkeit aus.
Ich glaube, der Film spiegelt die Zeit wider, die ich mit Yvette verbrachte. Ich besuchte sie zusammen mit Julien, einem Kameramann, dessen Arbeit ich bewundere, und Camille, einer Tontechnikerin. Obwohl Yvette mit dem ganzen Equipment zuerst etwas überfordert war, zeigte sie uns schon bald ihre verspielte Seite. Sie liebte es schon immer, Herzen für sich zu gewinnen. Daher lief der Dreh auch sehr entspannt ab.
Sie saß in ihrem Lieblingssessel und begann zu erzählen. Von Zeit zu Zeit stoppte sie, um sich um ihre Vögel zu kümmern oder fernzusehen. Am Ende fühlte es sich an, als hätten wir als Großmutter und Enkel zusammen Zeit verbracht. Es war mir wichtig, dies auch im Film zeigen zu können. Deshalb habe ich genügend Platz für die kleinen Momente gelassen, die einen zum Lächeln bringen. Trotz ihrer Leichtherzigkeit strahlte Yvette eine immense Kraft aus. Sie war eine Frau, die viel durchmachen musste und das Leben alleine gemeistert hat.
Was sind deine Pläne?
Die letzten zwei Jahre habe ich mich darauf konzentriert, eine Plattform für Dokus zu entwickeln: sitnwatch.tv. Es ist gewissermaßen das Gegenstück zu 99, weil ich nur Dokumentationen in Spielfilmlänge berücksichtige und einen neuen Film jeden Monat hinzufüge.
Ich habe nun mehr Zeit, um Filme zu drehen, und bin mitten in der Planung neuer Dokus, die ich hoffentlich bald verwirklichen kann. Gleichzeitig arbeite ich als Programmleiter für das Paris Surf & Skatebord Film Festival. Wie der Name schon sagt, ist es ein Filmfestival, das diese zwei Leidenschaften feiert. Unser kleines Team ist voll damit beschäftigt, die 9. Ausführung zu planen, und hat daher noch einiges zu erledigen.
Was kannst du über 99 und die Zugänglichkeit deines Films dank der Untertitelung in verschiedenen Sprachen sagen?
Ich finde es großartig, dass der Film so neue Zielgruppen erschließen kann. Ich hoffe, er inspiriert andere dazu, auf ihre Nachbarn zuzugehen, gerade wenn diese älter und einsam sind.
Hast du auf der 99-Plattform einen Lieblingsfilm, den du empfehlen würdest?
Ich finde „Ich bin langweilig“ super. Ich mag Leute, die keine 08/15-Hobbys haben, und deshalb hat mich der Film auch so begeistert!
Außerdem bin ich Fan davon, gegen den Strom zu schwimmen und mal etwas anderes zu zeigen als die Sonnenseite des Lebens. Das Normale zu zelebrieren, was manche vielleicht auch als langweilig ansehen, hat seine ganz eigenen Vorzüge. Ich würde mich sehr über eine längere Version freuen.
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