Chunlis Leben ist einsam.

Alleine in Neuseeland und im Tischtennis ungeschlagen. Alleine zu Hause mit einem leeren KĂŒhlschrank. Alleine im Wohnzimmer, ausser dem Tisch, an dem sie trainiert, trainiert und trainiert. Dann alleine und verĂ€ngstigt in der Zeit von COVID im Lockdown im Jahr 2020.

Als Chunli jung war, sagte ihr ihr Herz, sie solle ihrem Sport treu bleiben und auf Liebe und Familie verzichten. Nun wird sie bald 60 und hat immer noch eine kleine Hoffnung auf olympisches Gold.

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Regie: Jenny Gao
Produktion: Mia Maramara, Loading Docs (Julia Parnell, Juliette Veber, Anna Jackson, Christopher Connolly),
Bianca Samson, Lu Zheng Wei, Martin Paris
KamerafĂŒhrung: Tim Lambourne, Daryl Wong
Bearbeitung: Jack Woon
Ton: Joey Siasoco
Drohne: Petra Leary
Farbkorrektur: Julian Dyson
Postproduktion: Department of Post (Mark Taylor, Lauren Carr, Joss Hardman, Luana Barnes)
Danksagungen: YMCA Lagoon Stadium Leisure Centre, Chunli’s Table Tennis Club, Klim Type Foundry, Roseanne Liang, Hweiling Ow & Peter Haynes, Angie Guo, Adrian Lancashire
Archiv: Chunli Li, TVNZ (Getty Images), NZ Olympic Committee
Übersetzung: Kira Euler (
ZĂŒrcher Hochschule fĂŒr Angewandte Wissenschaften)

Interview

Jenny Gao | 99.media

Jenny Gao Regisseurin

„Chunli ist unaufhaltbar.
Sie wird immer ein Ziel vor Augen haben mĂŒssen.
DafĂŒr steht sie morgens auf.
So einfach das klingt, so schwierig ist es.“
  • Könntest du dich bitte vorstellen?


Kia ora!
Ich bin Jenny Gao. Ich bin in Auckland, Neuseeland, aufgewachsen und arbeite als Fotografin und Dokumentarfilmerin. Ich liebe Geschichten, die das Intime, und zugleich Reizhafte von kĂŒhnen Charakteren herausbringen. Menschen, die jegliche Erwartungen ĂŒbertreffen – solche Geschichten sind komplex, bunt und liebenswert.

Vor der Pandemie war ich leichtlebig unterwegs und sprang von der freiberuflichen UX-Designerin zur Content-Produzentin fĂŒr TourismusverbĂ€nde, was mir jahrelanges Reisen ermöglichte. Schließlich wollte ich zurĂŒck nach Hause und Filme drehen, die etwas Neues kreieren. Filme sind ein solch allumfassendes Medium! Ich bin unglaublich froh, dass ich diese Kunstform fĂŒr mich entdeckt habe, bei der ich meine ganze KreativitĂ€t in einem großen Kaleidoskop zusammenfassen kann.

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  • Wie hast du Chunli getroffen und wie hat dieses Projekt gestartet?

     

Sie trainiert meine Cousine. Mein Onkel erzĂ€hlte beilĂ€ufig bei gemeinsamen Familienessen, dass Chunli bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokyo die Goldmedaille anstrebte. Sie ist eine Ikone asiatischen Community Neuseelands. Diese AnkĂŒndigung ĂŒberraschte aber.

”Immer noch? Ist sie nicht zu alt dafĂŒr?„, war die Reaktion meines Großvaters. Die Uneinigkeiten am Esstisch darĂŒber, wie relevant ihr Alter fĂŒr den Sport sei, machte mir klar, dass dies eine eindrucksvolle Geschichte abgeben wĂŒrde.

  • Chunli scheint sehr einsam zu sein. Allein in einer Stadt, wo sie im Tisch-Tennis alle Gegner hinter sich lĂ€sst. Allein zu Hause, einsam auf ihre Zukunft blickend und mit Angst vor Einbrechern. Dieses GefĂŒhl der Einsamkeit scheint durch den Lockdown noch verstĂ€rkt worden zu sein.

     

Beim ersten Lockdown in Neuseeland erlebte Chunli die grĂ¶ĂŸte Pause vom Tischtennis, die sie jemals hatte. Es ist lustig – ich habe sie immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln und oft ganz unverblĂŒmt zu ihrer Einsamkeit befragt. Sie antwortete stets fröhlich darauf. Entweder, weil sie der Frage nie viel Beachtung schenkte oder weil sie es vor der Kamera verbergen wollte.  Das soll das Publikum selbst entscheiden.

 

Chunli hat alle Lockdown-Phasen durchlebt: die anfÀngliche Neuheit, spÀter die Langeweile, die persönlichen Erleuchtungen, der Lagerkoller. Als olympische Athletin ist sie ein extremes Beispiel, dennoch reprÀsentiert sie dieselben Erlebnisse, die wir alle wÀhrend der QuarantÀne-Zeit hatten. Man wurde eingesperrt und klebte an den Bildschirmen.

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“Die Pandemie hat uns ziemlich zu schaffen gemacht. Wir mussten eine 180 Grad-Wendung machen.“
  • In Anbetracht ihres Alters scheint es unwahrscheinlich, dass Chunli an den Spielen teilnehmen wird. Bleibt es ein Traum?

     

Da Chunlis sportliche Ambitionen immer «simpel» waren, blieben sie auch greifbar: Weltmeisterschaften, Goldmedaillen, Auszeichnungen. Diese Errungenschaften sind das Symbol fĂŒr ihren unermĂŒdlichen Geist und ein glĂ€nzender Beweis fĂŒr ihre Unaufhaltbarkeit. Ich denke, sie wird immer ein Ziel vor Augen haben mĂŒssen, dem sie nachstreben kann. Das ist ihre Welt. DafĂŒr steht sie am Morgen auf. So einfach das klingt, so schwierig ist es.

  • Chunli erzĂ€hlt von ihrer Vergangenheit und der Entscheidung zwischen ihrer Karriere und einer Partnerschaft oder einem Familienleben. HĂ€tte sie nicht beides haben können? WĂŒrdest du das eine radikale Entscheidung nennen?

     

Das war sehr schwierig fĂŒr mich. Denn bei mir gibt es nicht nur Schwarz oder Weiß. Ich verstand nicht, wieso sie sich ĂŒberhaupt entscheiden musste, aber vielleicht will ich auch einfach zu viel vom Leben. Jung Frauen im Jahr 2021 wollen gleichzeitig eine florierende Karriere und zudem auch eine Familie – da bin ich nicht anders. Mein UnverstĂ€ndnis gegenĂŒber Chunlis Lebensentscheidungen hat mit Angst gegenĂŒber meinen eigenen WĂŒnschen zu tun.

Ich wollte glauben, dass sie Meisterschaften und eine Familie haben konnte. Aber wie die in der Kunst, kann der Sport ein Leben vollstĂ€ndig absorbieren. Chunlis IdentitĂ€t ist das Tischtennis. Eine andere Entscheidung zu treffen, wĂ€re fĂŒr sie radikal gewesen.

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  • Dieser Film ist Teil von „Loading Docs“, einer Plattform dokumentarischen Kurzfilmen ĂŒber Neuseeland. Was sagt Chunlis Geschichte ĂŒber das heutige Neuseeland aus?

     

Neuseeland bietet einen der höchsten Lebensstandards der Welt. Aber unser glÀnzendes Image verschleiert einen wachsenden Vermögensunterschied, systemische Befangenheit und offensichtlichen Rassismus.

Es ist beinahe unmöglich, fĂŒr einen Nischensport Finanzierung zu bekommen, es sei denn, es liegt im Interesse weißer NeuseelĂ€nder – Rugby, Cricket und Netball.

  • Könntest du uns erzĂ€hlen, wie die Dreharbeiten trotz der Pandemie verlaufen sind? Welche Wirkung hatte sie auf dein Projekt?

     

Die Pandemie war fĂŒr uns echt ungĂŒnstig. UrsprĂŒnglich sollte die Dokumentation ĂŒber Chunlis Qualifikation fĂŒr die olympischen Spiele in Tokio handeln. Als diese verschoben wurde, waren wir gezwungen, in eine komplett andere Richtung zu gehen. Wir konnten nur zwischen den Lockdowns, mit Masken und zwei Metern Social Distancing filmen. Dies erlaubte uns, kreative Bildkompositionen zu wĂ€hlen, um so das GefĂŒhl ihrer Isolation zu verstĂ€rken. Eigentlich hatte ich vor, die stilistischen Grenzen des herkömmlichen Dokumentarfilms zu sprengen.

Mein Kameramann und ich hatten vor, eine Mischung aus einem Dokumentarfilm und einem flippigen Musikvideo zu drehen. Schließlich hatten wir dann aber dennoch eine emotionale, herzliche Charakterstudie. Mein Traum von dynamischem Bildmaterial und intensiven Farben lebt aber weiter und wird hoffentlich im nĂ€chsten Projekt verwirklicht.

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  • Woran arbeitest du momentan?

     

Ich fĂŒhre gerade Regie fĂŒr ein Coming-of-Age-Dokumentarfilm im TV ĂŒber eine Gruppe von It-Kids. Die Protagonisten arbeiten als Model, schreiben Food-Blogs, designen Fashion und machen Musik. Sie leben, lieben, blĂŒhen auf und stolpern – alles vor einem digitalen Publikum.

Ich freue mich sehr darauf. Sie sind alle wahnsinnig und auch wahnsinnig talentiert. Es wird ein echter Spaß sein, und ich kann es kaum erwarten, bis die Welt sieht, wie wir in Down Under die Dinge so machen.

  • Noch ein Wort ĂŒber 99 und die mehrsprachige Untertitelung deines Films?

     

Es ist eine Ehre, Teil von 99 zu sein und dass Table for One in so viele Sprachen ĂŒbersetzt wird. Der Sinn dieser kurzen Doku ist es, einen krĂ€ftigen Charakter und eine emotionale Verbindung zu zeigen, die Sprache und Kultur ĂŒbersteigen. Ich hoffe, dass sich Menschen in Chunli erkennen und Gefallen an ihr und ihrem großen Herz finden.

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