Jeden Morgen nimmt María vor ihrem Haus Platz, um die Pilgerinnen und Pilger zu zählen. Der Jakobsweg führt direkt an ihrer Haustür vorbei. Von ihrem Stuhl aus wohnt sie dem langsamen Vorbeitreiben bei.

Die ältere Dame lebt allein mit ihren Hunden und einem Vogel. Ein morscher Tisch mit einem abgegriffenen Notizbuch und ihr offizieller Stempel verkörpern Marías Zählbüro. Mit dem Jakobskreuz verzierte Kürbisse und Pilgermuscheln ergänzen den besonderen “chiringuito”, ihren Kiosk.

Das Zählen ist eine monotone Arbeit. Manchmal kommt es deshalb vor, dass María unter dem Sonnenschirm in einen Halbschlaf fällt. Niemand hat María darum gebeten, die Pilger und Pilgerinnen zu zählen, weshalb sie auch niemandem Rechenschaft schuldig ist.

Regie: Anne Milne
Cinematography: Julian Krubasik
Übersetzung: Hannah Hüglin, Zora Schneider (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften)
Ton: Simon Herron and Rob Walker
Kalibrierung: John Sackey

Interview

Anne Milne | 99.media.jpg

Anne Milne Regisseurin

Maria lebt nach einer Philosophie,
von der wir alle lernen können.
Wenn du lange genug wartest, bekommst du, wonach du dich sehnst.”
  • Können Sie uns ein wenig über sich erzählen?


Ich bin in den 60 und 70er Jahren aufgewachsen, als Schottland ein stark sozialistisches Land war. Das war zu Zeiten des schwarzweissen Fernsehen, der Schallplatten und es gab noch nicht einmal Festnetzanschluss. Schon sehr früh wollte ich die Welt erkunden, was wohl auf meinen Globus zurückzuführen ist, den ich damals besass und meine Sammlung an Büchern, die alle von einem anderen Land handelten.

So entstand meine bis heute anhaltende Liebe zum Reisen, Abenteuer und mein Interesse an anderen Menschen und Kulturen. Die Universität besuchte ich erst mit 30 und meinen Masterabschluss in Fine Arts (MFA) machte ich mit 50. Ich habe an verschiedenen Orten gelebt, viele verschiedene Jobs gemacht, doch seit meinen frühen 30ern ist das Filmemachen meine Leidenschaft – auch wenn ich meine Rolle als Filmemacherin vor Beginn meines Masterstudiums in Filmregie nicht ernst nahm.

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  • Wie ist dieses Projekt zustande gekommen?
    Wie haben Sie María kennengelernt?

     

In meinem Leben vollzog sich 2007 eine Wende und es folgte ein Jahr auf Reisen und mit der Frage, was ich als nächstes tun würde, wo ich wohnen würde. Ich verbrachte Zeit in Österreich, Indien, Nepal, Berlin, New York und schlussendlich beschloss ich, den Jakobsweg zu gehen. Es stellte sich als eine der intensivsten und entscheidendsten Erfahrungen meines Lebens heraus.


Als ich 2008 am Edinburgh College of Art meinen MFA begann, war ich mit den Gedanken beim Jakobsweg. Ich war fest entschlossen, einen Film über einen Aspekt dieses unglaublichen Wegs zu machen. Wenn ich an all die vielen Orte entlang des Weges dachte, die einen Eindruck hinterlassen hatten, kam mir Marías kleiner Stand in den Sinn. Es gab keine Möglichkeit, sie zu kontaktieren, aber als wir dann 2009 zum Filmdreh in Spanien ankamen, wusste ich noch genau, wo sie wohnte. Es war ein regnerischer Tag, sie stand im Schuppen und sprach mit einem der Pilger, die stehengeblieben waren. Wir holten ein paar Stühle hinzu und am Ende des Nachmittags willigte María mit dem Segen ihrer Tochter ein, in unserem Film aufzutreten.

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  • Bedauerlicherweise ist María im März 2021 verstorben. Wie würden Sie diese hartnäckige, geduldige Frau beschreiben?

     

Etwas Besonderes an María war ihr grossmütiger Geist. Sie war sehr spirituell und sah das, was sie tat, als Dienst. Sie wollte keine Belohnung oder Aufmerksamkeit dafür. Sie tat es einfach, jeden Tag, bei Regen oder Sonnenschein.


Einer der interessantesten Aspekte ihres Lebens war, dass sie noch nie den Jakobsweg gegangen war und es auch nicht vorhatte. Während die Pilger*innen zur Erlangung religiöser Tugenden wandern, schien es mir, dass María, indem sie jeden Tag dasass und ihnen beim Vorbeigehen zusah, eigentlich viel mehr Frömmigkeit bewies als viele der pilgernden Menschen.
  • Das Tempo des Films ist langsam, sowie die Schritte der Pilger*innen, die von der Sonne erdrückt werden. Wie der Hund, der sich im Schatten räkelt. Eine Langsamkeit, die von langen, unbewegten, nachdenklichen Aufnahmen und der Abwesenheit von Musik verstärkt wird. Was war Ihre Herangehensweise?

     

Damals war ich hin und weg von dieser Art des langsamen, komplett beobachtenden Films, der den Zuschauer*innen das Gefühl gibt, tatsächlich selbst vor Ort zu sein. Ich dachte, wenn es ohne Musik klappt, dann möchte ich es probieren. Denn Musik vermittelt oft eine bestimmte Emotion oder ein Gefühl und ich wollte erreichen, dass die Zuschauer*innen dies auch ohne Musik spüren. Nur durch die Aufnahmen und Marías Worte und Taten. Ich entschied von Anfang an, dass meine Anwesenheit als Regisseurin nicht Teil des Filmes sein würde. Dieser sollte so gut wie möglich dem Stil des Direct Cinema folgen.

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  • María trifft auf Hunderte von Menschen, die sich aus Europa und der ganzen Welt auf den Jakobsweg begeben. Sie spricht jedoch nur Spanisch. Wie haben Sie beide sich verständigt, ohne die gleiche Sprache zu sprechen?

     

Bevor ich zum Dreh aufbrach wusste ich schon, dass ich eine Dolmetscherin brauchen würde. Denn obwohl ich bereits ein paar Male in Spanien war und in sechs Wochen den Jakobsweg gegangen war, verfügte ich nur über sehr rudimentäre Spanischkenntnisse. Ich hatte grosses Glück, dass mich ein Freund mit Hannah Hüglin bekannt machte. Sie spricht fliessend Englisch und Spanisch und konnte uns während des Drehs begleiten. Sie wurde zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Teams.


Alle Gespräche wurden über sie geführt. Ich sprach mit María und Hannah übersetzte. Natürlich dauerte so alles länger, aber es funktionierte gut, da wir uns während des Drehs stark an Marías Tagesablauf orientierten. Allgemein war es eine sehr entspannte und angenehme Zeit.


Wie im Film klar wird, ist die meiste “Action” beobachtender Natur. Mit María sprachen wir vor der Kamera lediglich für ein Interview, welches Hannah durchführte. Da hatten wir das meiste bereits abgedreht und waren alles bereits einige Male durchgegangen. So wusste ich schon genau, was ich María fragen wollte. Jeden Tag schauten wir uns das Filmmaterial an und Hannah übersetzte die wichtigen Stellen, damit ich zum Zeitpunkt des Interviews wusste, was ich noch wissen wollte.

  • Ihr Film hatte auf Festivals rund um den Globus Erfolg. Er handelt von einer ortsbezogenen Situation und vermittelt dennoch eine universale Botschaft.

     

Du hast recht, er birgt eine universale Botschaft. Es geht um das Leben, den Tod und um alles dazwischen. Ich glaube, dass Marías Charakter vielen Menschen gefällt, weil sie sich selbst treu bleibt und wir sehen mit an, wie sich ihre Laune im Verlaufe des Tages verändert.


Sie wirkt authentisch und ich denke, das ist erfrischend für die Leute. Sie ist witzig und zur selben Zeit kämpferisch. Sie lebt nach einer Philosophie, von der wir alle lernen können. Wenn man lange genug wartet, bekommt man, was man ersehnt – sei es so etwas Simples (und doch Mächtiges) wie jemand, der dich wiedererkennt.

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  • Woran arbeiten Sie zurzeit?

     

Seit dem Dreh von “Marías Weg” habe ich eine ganze Reihe von Kurzfilmen, einen Hauptfilm und einen Fernsehfilm gedreht – alles Dokumentarfilme. Jetzt produziere ich gerade einen Hauptfilm sowie einen Low-Budget-Kurzfilm.


Seit einigen Jahren gebe ich ausserdem Unterricht und im Rahmen einer Kollaboration zwischen dem British Council, dem Scottish Documentary Institute und Organisationen in China, Indonesien, Pakistan, Libyen und Jordanien betreue ich Filmemacher*innen.

  • Noch ein Wort zu 99 und zur mehrsprachigen Untertitelung Ihres Films?

     

Es war toll, mit 99 zu arbeiten und es ist besonders schön, dass “Marías Weg” in mehreren Sprachen verfügbar ist. Jeder und jede wünscht sich für die eigenen Filme ein so grosses Publikum wie möglich.

 

Zuschauer*innen aus der ganzen Welt den Zugang zu Filmen zu ermöglichen ist definitiv einer der Gründe, weshalb ich stolz darauf bin, meinen Film auf 99 zu zeigen.

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